Was zu Beginn von ‚Geschichte schreiben‚, dem Vorboten des für Herbst angekündigten dritten Albums der Berliner Band ENGST, im Grundton sehr melancholisch klingt, drückt musikalisch trotzdem ziemlich nach vorne. Breitkreuzige Drums, Euphorie trunkene Bläser, ein Gitarrensound wie ein herzlicher Schwitzkasten – und natürlich die Stimme von Matthias Engst.
Punk- und Hardcore-geschult, vom Leben angeraspelt – dabei aber oft erstaunlich, nun ja, massenkompatibel. Nicht ganz leicht, diesen Effekt zu beschreiben, aber sagen wir so: Matthias Engst hätte mit dieser Stimme auch der neue Tim Bendzko, Mark Forster oder Ben Zucker werden können. Vergleiche, die hier mal nicht als Diss gedacht sind, sondern einfach bedeuten: Er hätte – wenn er glattgebügelte Radiomusik machen wollen würde – auch die Stimme für die breite Masse.
Aber keine Panik: ‚Geschichte schreiben‚ ist weiterhin Punkrock, der auch Fans von den Hosen, den Broilers oder Feine Sahne Fischfilet abholen dürfte – aber die machen ja auch inzwischen Arenen voll. Vielleicht kommen ENGST da ja auch noch hin. Die Songs und die Energie dafür hätten sie. Das gilt mehr denn je für 13 Lieder, die da bald kommen werden.
Matthias Engst, Sänger und Songschreiber von ENGST, freut sich fast ein wenig diebisch, wenn man ihm „Massenkompatibilität“ vorwirft: „Ich glaube, viele haben diesen ersten Eindruck von uns. Weil wir musikalisch schon sehr aufgeräumt und poppig klingen können. Wenn man uns, also unsere Fressen, noch nicht live gesehen hat, denken viele: ‚Joah, das ist so eine nette Deutschrock-Punkband.‘ Dann machste mal ne Klavierballade und die Leute sagen: ‚Guck an, der Sänger kann auch singen.“
Kann er wirklich. „Und wenn sie uns dann live sehen, wie wir abgehen auf der Bühne und wie zugehackt ich bin in Sachen Tattoos, denken sie: ‚Woah, das is wild.‘“
Wenn man Matthias Engst, in seinem Marzahner Kiez besucht, kann es außerdem schon mal passieren, dass aus dem geplanten halbstündigen Interview zur neuen Platte ein Drei-Stunden-Talk wird. Vor allem, wenn man in an seinem zweiten Arbeitsplatz neben der Bühne besucht: er leitet den Jugendclub „Energy“ in Berlin-Marzahn. Matthias ist in diesem Viertel aufgewachsen. „Und das ist als Punk kein Zuckerschlecken gewesen. Wird besser, aber hier gab’s immer viele Nazis und die haben mich auch schon mal zu packen gekriegt und mich ziemlich zugerichtet.“ Wegzuziehen sei für ihn aber trotzdem nie eine Option gewesen. Aber es erklärt, warum er jetzt als Sozialarbeiter einen Jugendclub leitet, in dem es auch einen Proberaum gibt, den Bands kostenfrei nutzen können. Vorher hat Matthias Engst übrigens einige Jahre in einem Hospiz gearbeitet. Man merkt ihm den intuitiv gelernten Umgang mit Menschen in schwierigen Lebensphasen an. Vielleicht auch, weil er selbst mal solche Phasen hatte. „Als ich mit meiner ersten Punkband damals, da war ich so 22,23 erste, minimale Erfolge hatte, dachte ich gleich: Jetzt geht’s los. Damals hab ich auch noch gestofft und Drogen genommen und so ne Pisse. Ich kam überhaupt nicht klar, bis ich mal so derangiert in meinem Zimmer aufgewacht bin, dass mir klar wurde. Ich muss was machen.“ Seine Leute in Marzahn und vor allem seine Eltern halfen ihm, wieder auf Kurs zu kommen. Nicht zuletzt durch ENGST hält er jetzt die gute Balance aus Exzess, den er gerne auf Bühnen auslebt und so was wie Alltag. Aber genau dieses Leben steckt nun in Zeilen wie diesen:
„Hier und da die falsche Ausfahrt gewählt / Hier und da auf falsche Freunde gezählt / Die Echten bleiben für immer / Für euch ist das Herz / für die anderen der Finger.“