Dies ist die Geschichte von zwei Metallerinnen die auf ein Klassik Konzert gehen. Und Kinder, Kinder… was haben wir da erlebt.
Am 13.09. diesen Jahres, machten Fotografin Pia Böhl und ich uns auf den beschwerlichen Weg nach München. Da man freitag nachmittags in der Ferienzeit selbstverständlich nicht mit Verkehr rechnet, überraschte uns der vehemente Andrang der Autos, die wohl alle Richtung München wollten, sehr. So kamen wir kurz vor knapp am Zenith München an.
Die Vorband wurde eingespart, kennt man doch niemand vergleichbaren, der Klassik in andere Musikrichtungen umwandelt, schon gar nicht auf einer Geige (who the * is David Garrett?). Schon fast erstaunlich, dass gerade wir im Land der Dichter und Denker so heiß sind auf Violinenklänge mit moderner Handschrift (Stirling erhielt in Deutschland Dreifachgold für ihr Debütalbum Lindsey Stirling und Platin für Shatter me).
Nachdem die Massen vor der Tür per Flatterbandlogik irgendwie alle hinein buchsiert werden konnten (dies dauerte auch gar nicht lange) ging das Konzert mit geringer Verzögerung los.
Die Menge tobte und kreischte wie ich es lange nicht mehr erlebt hatte (lange nicht mehr in diesen hohen Stimmlagen). Die kleine, schlanke US-Amerikanerin betrat, nein, sprang förmlich auf die Bühne und legte sofort los:
Zum ersten Song Artemis, der den Namen für ihr neues Album liefert, kann ich erstmal das Bühnenbild bestaunen, das bis jetzt in Dunkelheit gehüllt war. Eine riesige Hintergrund-leinwand zeigt Aufnahmen von Wellen, vom Meer, dann von Bergen und Sand. Tänzerinnen gesellen sich zu Stirling und zeigen mir und den anderen Lindsey-Jungfrauen worauf man sich den restlichen Abend einstellen kann: Langeweile kann draußen bleiben.
Stirling tanzt als würde ihr die Violine den Weg vorgeben. Diese sieht übrigens aus wie eine Armbrust (siehe Bildergalerie). Die Musik, zusammen mit dem ballettgleichen Tanz und dem Bühnenbild wirkt wie eine Geschichte, die uns die ehemalige Therapeutin erzählen möchte. Dann geht es nach einem ersten Applaus direkt weiter mit Element/Lost girls. Dazu verschwinden die Tänzerinnen und Lindsey tanzt alleine wie über eine Waldlichtung. Ich kann Schlagzeug, Keyboard und eine E-Gitarre vernehmen. Als nächstes wird Shatter me angestimmt und das Publikum rastet bereits bei den ersten Tönen aus (es handelt sich wohl um ein recht bekanntes Stück). Es wird nun eine kugelförmige, Minibühne mit Leinwand an der Rückseite herunter gelassen, die das Mondthema des Albums aufgreift. Zu diesem Song gibt es nun Gesang (eingespielt) und erneut eine Choreographie der Tänzerinnen und Stirling. Der Song ist sehr poppig-elektronisch und so klar ein massentauglicher Charthit.
Es folgt ein Schwarz-Weiß-Kurzfilm in dem die Tänzerinnen sich in der Umkleidekabine über Lindsey und einen Ball unterhalten. Sie wollen sie etwas fragen, aber ehrlich gesagt weiß ich bis heute nicht was. Nach dem Kurzfilm betreten also die Tänzerinnen und Stirling erneut die Bühne, diesmal in Ballkleider gehüllt, passend zum Ballsaal-Leinwand Bild. Die Kugel-Leinwand (wie ich sie jetzt nennen werde) hat sich in eine Uhr verwandelt und mich durchzuckt sofort diese Cinderella-Assoziation. Der Tanz zu Masquerade ist sehr traditionell und erinnert ebenfalls an eine Nacht als Prinzessin mit dem Prinzen (oder einer anderen Prinzessin, wir sind ja modern unterwegs). Und tatsächlich assoziiert mein Metal-Herz nun noch etwas – erinnert dieser Song vielleicht noch jemanden an Eluveitie?
Während sich Lindsey in ihr Piratenkostüm pellt spricht sie erstmals zum Publikum. Sie wirkt dabei sehr süß, lieb, greifbar und dennoch witzig – alles in allem sehr sympathisch. Man kann kaum glauben, dass dieses Mädchen mit ihren gefühlten 1,50m und der Quietschstimme eine große Bühne komplett in ihre Welt zu verwandeln weiß. Während Master of Tides, einer Ode an die Freibeuterei, werden parallel Aufgaben für die Tänzerinnen eingeblendet, für die das Publikum abstimmen darf – alles sehr interaktiv und unterhaltsam. Wie gesagt, man hat gar nicht die Möglichkeit eine Minute weg zu schauen. Es werden allerlei Requisiten auf der Bühne herum gereicht, eine Schatzsuche gemimt und Schwertkampf vorgetanzt. Am Schluss des Stücks hängt Lindsey an der Kugel und spielt im Hängen strampelnd weiter.
Zu Love goes on and on schauen Pia und ich uns mit einem „Aaaaaah“ erkennend an. Der Name Amy Lee, war uns bekannt und jetzt fiel es uns wie Schuppen von den Augen. Der brüstige, tiefgreifende Schnulzensong auf ihrem neuen Album ist ein Feat mit Evanescence-Sängerin Amy Lee. Während Lindsey vor der Kugel, die nun von einer Sonne erleuchtet wird, tanzt sieht man Amys Gesicht in riesigem Ausmaß auf der Leinwand singen.
Bevor Stirling Crystallize zum Besten gibt, wird eine junge, unschuldige Mädchenstimme eingeblendet die uns etwas über den Mond erklärt – eine Überleitung zum Thema Verlust, Angst und Depression. Ein Video wird gezeigt in dem Stirling in mehreren Rollen zu sehen ist. Alles wirkt sehr kunstvoll und ästhetisch. Bei diesem Song tanzt Lindsey alleine in einem weißen Kleid und in blaues Mondlicht gehüllt über die Bühne. Es ist, als wäre es ihr Moment.
Nach ihrem größten Hit folgt eine erneute Ansage, die uns das ganze Thema des Albums, in Verbindung mit ihrer persönlichen Geschichte erläutern soll. Artemis ist in der griechischen Mythologie die Göttin des Mondes. Der Mond strahlt in der Dunkelheit und Dunkelheit bedeutet Angst, Depression, Verlust… und so weiter. Artemis bringt also das Licht in die Dunkelheit. Stirling erzählt von ihrer persönlichen Dunkelheit, von Tod, Depression und ihrer Krankheit – Anorexia. Es folgt eine Aneinanderreihung von ultimativen Poesiealbum-Sprüchen an das Publikum wie „Love yourself“ und „There is hope“ oder „Reach for your dreams“.
Unser sprechender Tumblrpost sorgt nun als nächstes für feuchte Augen (die sie auch selbst hat, meint sie zumindest) und Bierzeltstimmung: Zuerst ein sehr emotionales Cover vom Hochzeits- und Beerdigungshit Halleluja, dann ein Sample aus 99 Luftballons und… ich wage es kaum zu sagen…Atemlos.
Als der Wahnsinn sein Ende gefunden hat, kommen wir zurück zu den dramatischen Violinenstücken die wir wollen. Ein Sternenzelt erleuchtet nun das Zenith. Stirling trägt ein langes Kleid und ein Geweih. Göttinnengleich bewegt sie sich fort und legt sich in die Kugel die sich erhebt. Während sie Between the Light in ihrer Kugel liegend spielt, greifen sich die Tänzerinnen am Boden, die Schleier ihres Kleides und verflechten diese miteinander. Sleepwalking geht wieder eine Rede der Off-Mädchenstimme voraus, welche über Träume und Schlafwandeln erzählt (was wieder in Depressione mündet.) Stirling trägt wieder ein neues Kostüm, diesmal à la Grace Kelly mit Kopftuch. Die Tänzerinnen tragen Regenschirme und Brillen im Luna Lovegood-Style.
Zu Arena wird nochmal das ganze Anime-Paket ausgepackt: Ein Film wird gezeigt der wie ein Kinotrailer wirkt. In diesem tritt Lindsey als dämonengejagte Fabrikarbeiterin, geweihte Waldgöttin und wilde Amazone auf. Es geht um Schattenwelt und wiedermal… das Licht in der Dunkelheit. Auf der Leinwand werden Wörter eingeblendet wie Fear, Death, Depression oder Judgement. Zu Underground ebbt die Dramatik wieder etwas ab, auch wen die Musik theatralischer (aus eine positive Art und Weise) nicht sein könnte. Stirling und ihre Bühnentänzerinnen beeindrucken nun doch nochmal das ganze Publikum: Eine krasse Akrobatik-Choreographie an und in dieser Kugel lässt meine und die Augen des restlichen Publikums leuchten.
Roundtable ist dann wieder ein älteres, bekannteres Stück. Es erinnert mich sehr an stimmungsvollen Irish Folk und mir erschließt sich bald der Sinn des Namens. Die Geige von Stirling duelliert sich hier mit dem Instrument ihres Gitarristen, bis sie dann zu einem gemeinsamen Höhepunkt finden bei dem Achtung! sogar geheadbangt wird! Mein Herz hat sich die kleine Violonistin gerade defintiv ergeigt. Ich will eifrig mit machen, treffe dabei allerdings die Leute um mich herum die mich perplex anstarren. Hmm naja doch nicht ganz wie auf Wacken.
Das Konzert neigt sich dem Ende zu, doch Stirling hat für uns alle noch einen Tip gegen Depressionen mitgebracht: Sie selbst schreibt sich jeden Abend selbst auf, für was sie dankbar ist, das trainiert ihr Gehirn zum positiv denken. Wer das mal ausprobiert hat kann mir ja einen Erfahrungsbericht senden. Passend dazu gibt es nun die hoffnungsschimmernde Ballade First Light. Die gerade erst erschienene Single Upside folgt zu der sich Elle King bereit erklärte den Gesang zu liefern. Klingt für mich ein bisschen wie der neue Shades of Grey-Soundtrack. Also, ab an die Chartspitze damit! Überraschenderweise folgt nun ein orientalisch angehauchter Track namens Miracle der bestens in jedem Bollywood Streifen aufgehoben wäre. Passen dazu bewegen sich die Tänzerinnen und hantieren mit riesigen roten Straußenfedern. Als letztes spielt Stirling den Titel Guardian der von …. Engeln handelt. Oh wie schön. Die Leinwand wird nochmal von Blumen erhellt, Tänzerinnen und Stirling performen elfengleich zu den letzten Tönen des Abends.
Fazit: Meine Schwester ist der größte Fan dieser Frau, so dass ich in die Marterie bereits eingeweiht war. Ich erinnere mich daran wie wir uns stritten ob ein Auftritt von Alice Cooper oder Stirling bedeutender wäre. Selbstverständlich vertrat ich Cooper. Nach diesem Abend muss ich ehrlich sagen, das ich mir da gar nicht mehr so sicher bin. Ein Cooper kann sich zwar den Kopf abhacken lassen und trotzdem weiter singen… aber kann er sich mit einer Geige an einer Kugel aufhängen lassen und die dann auch noch spielen? Ich glaube kaum.
Gute 6h Anfahrt für 90 Minuten Konzert – und man muss trotzdem sagen, es hat sich gelohnt! Lange habe ich mich nicht mehr so gut unterhalten gefühlt und das von einem klassischen Instrument zu melodischen Elektro-Pop Stücken bei denen zumeist nicht mal gesungen wird. Das Motto des Konzerts und Albums zog sich wie ein roter Faden durch den Abend – ein kleines bisschen viel Kitsch und Lebensmottoweisheiten für mich – aber wenn genau das dem Publikum und Stirling persönlich hilft und Hoffnung gibt – Dann, gib ihnen.
Ich würde defintiv wieder hin gehen und die Show, so wie meinen neuen Konzentrationssoundtrack Artemis,
jedem weiter empfehlen! Ein Go, für unsere kleine klassische Metallerin mit der Violine!