Samstagmittag Ende Januar, der Persistence-Zirkus-Tross gastiert in Oberhausen, da stehen alle Zeichen auf Motivation – sollte man meinen. Noch nie musste ich mich jedoch so sehr aufraffen, um den Weg in die Turbinenhalle anzutreten. Dies ist einerseits dem Umstand geschuldet, dass mich das Billing nicht so sehr geflasht hat, andererseits hat sich bereits früh abgezeichnet, dass ich im Unterschied zu den vergangenen Jahren ohne trink- und tanzfreudige Begleiter die Stellung behaupten muss, ein Umstand, der zumindest teilweise ebenfalls dem Billing geschuldet ist. Mit standesgemäß lauter Beschallung lässt sich dann aber schließlich der Motivationspegel auf der Autobahn doch noch ein bisschen nach oben schwindeln. Leider wurde im Vorfeld der Veranstaltung eher weniger klar kommuniziert, dass es bei den Supports einen Line-Up-Wechsel gegeben hat. So fällt den oben geschilderten Umständen der Auftritt von CUTTHROAT zum Opfer, die als Sidekick von BILLYBIO dem Billing hinzugefügt worden sind.
Nachdem das Kraftfahrzeug ordnungsgemäß abgestellt ist und ich das Gelände der Turbinenhalle betrete, zeichnet sich auch hier ab, dass sich das Interesse an der Veranstaltung doch eher in Grenzen zu halten scheint. Die vergangenen Jahre hatten um 18.00 Uhr schon deutlich mehr Publikum zu verzeichnen. Da die erste Combo, die mich interessiert, zu eben dieser Uhrzeit zu spielen beginnt, führt der Weg sofort in Richtung Bühne.
Hier zeigen TAKE OFFENSE, dass ihre vergleichsweise geringe Bekanntheit in Europa nicht gerechtfertigt ist. Zwar haben die 2005 gegründeten Kalifornier erst zwei Full-Length-Alben am Start, dafür jedoch schon einige EPs unter’s Volk gebracht. Mit der 2018er-Scheibe „High On Tensions“ im Gepäck feuern die Jungs bei gutem Sound eine halbe Stunde Material ins spärliche Publikum und hinterlassen mit ihrer „Suicidal-Tendencies-mit-mehr-Bumms-und-weniger-Cyco-Miko-Attitude“-Mucke einen bleibenden Eindruck. Sollten die Kalifornier in näherer Zukunft noch einmal in die hiesigen Clubs kommen – anschauen, macht Spaß!
Weiter geht‘s mit SIBERIAN MEAT GRINDER, einer Combo aus Moskau, von der ich bisher nur den Namen gehört und einige Promofotos gesehen habe. Vorweg schon mal – irgendwo scheint sich eine große Tür geöffnet zu haben, denn auf einmal ist die Halle fast voll. Und dafür, das stellt sich schnell heraus, sind tatsächlich die russischen Bären verantwortlich. Senken sich bei mir schon die innerlichen Scheuklappen, als Shouter Vladimir die Bühne mit Maske betritt, tragen die sehr eintönigen Songs auf Stakkato-Riff-Basis ihr Übriges dazu bei, um mich nicht anzusprechen, auch wenn mir drei Riffs pro Song häufig schon völlig ausreichen. Die Kinnlade klappt mir im Verlauf des Gigs allerdings immer weiter nach unten, denn ein Großteil des Publikums scheint zumindest die Shouts zu kennen und im Pit lassen sich zarte erste Kreisbewegungen beobachten. Respekt, meine Herren Fleischmüller, Punktsieg verbucht, love it or hate it.
Nun folgt mein erstes persönliches Highlight – BILLYBIO, die kurzfristig für Oberhausen mit auf das Billing gepackt wurden. Wenn ich ergänze, dass BILLYBIO das neue Projekt von Billy Graziadei, seines Zeichens Biohazard-Urgestein, ist, ist klar, was kommt. Mit dem November-Release „Feed The Fire“ im Gepäck knallen Billy und seine Mannen eine ansprechende, professionelle Mischung aus giftigem eigenen Material und Biohazard-Hits raus, dass es eine wahre Freude ist. Graziadei, der interessanterweise mit einem Headmic auf die Bühne kommt, was der Soundqualität keinen Abbruch tut, nutzt die so gewonnene Freiheit, um flummiartig jeden Winkel der Bühne zu beackern. Als dann gegen Ende des Gigs „Punishment“ und „Judgement Night“ in die begeisterte Meute genagelt werden, können BILLYBIO den Pokal abholen. Einziger Wermutstropfen dieses Gigs bleibt nach einem Ausflug in den Pit die Feststellung, dass sich im Fotograben eine neue Bassboxenline befindet, aufgrund derer der Graben im Vergleich zu den Vorjahren noch einmal ungefähr zwei Meter breiter ist – Daumen nach unten.
Kurzes Zwischenfazit gezogen: zwei geile Konzerte gesehen, ein weniger tolles, läuft bisher. Allerdings beginnt die Veranstaltung jetzt, sich für mich zur Achterbahnfahrt zu entwickeln. Jetzt läuten BOOZE&GLORY zum fröhlichen Tanzbeinschwingen. Obwohl mir die Jungs auf Platte bislang nur zugesagt haben und ich mich daher auf eine gepflegte Portion Oi!-Gerotze aus London freue, werde ich ein wenig enttäuscht. Legen die Briten vor imposantem Backdrop zwar noch los wie die Feuerwehr, flacht die Setlist im Laufe des Gigs doch ziemlich ab. Verstärkt wird dieser Eindruck zusätzlich dadurch, dass insbesondere Sänger Mark Booze scheinbar wenig Lust verspürt, mit dem Publikum zu interagieren, wie es im Street-Punk-Bereich eigentlich Usus ist. So bleibt der Eindruck, dass BOOZE&GLORY ihr Ding routiniert und professionell runterspielen, mehr war aber nicht. Schade.
Aber der Rollercoaster fährt munter weiter.
WALLS OF JERICHO waren nie so ganz meins, dafür habe ich ihre Entwicklung über die Jahre leider zu wenig verfolgt. Deshalb schaue ich mir den Beginn des Gigs erstmal vom Hallenende aus an. Als ich dann aber ziemlich schnell merke, dass meine Ärmel flattern, weil da ein ganz mächtiges Soundmonster von vorne drückt, nehme ich das Ganze genauer unter die Lupe. Und, wie immer, der Funke springt über. Frontkönigin Candace Kucsulain gibt alles, reißt Kilometer auf dem Parkett runter, brüllt die ehrfürchtigen Untertanen an wie nichts Gutes und setzt dem Gesamtkunstwerk die Krone auf, indem sie durch dezent-charmante politische Statements überzeugt. Nebenbei bekommt man das gesamte Gassenhauerpaket per Expresslieferung in die Gehörgänge gepustet, dass einem fast Sehen und vor allem Hören vergehen. Ich bin jedes Mal, wenn ich die Combo aus Detroit sehe, erstaunt, wie die Magie hier überspringt. Messe gelesen – alle zufrieden.
Alle? Nein, so langsam meldet sich der Magen und befiehlt dem Großhirn in aller Deutlichkeit, dass es Zeit für die Nahrungsaufnahme ist. So werden, zum großen Ärger des Gehörs, MUNICIPAL WASTE leider der Mantaplatte geopfert, die im separaten Cateringbereich der Halle für einen erschwinglichen Kurs zu haben ist. Überhaupt sollte erwähnt werden, dass sich das Speisenangebot in den letzten Jahren erheblich verbessert hat. Einzig über eine Wiederbelebung der guten alten Bockwurst mit Senf sollten die Veranstalter nachdenken.
Gestärkt begebe ich mich wieder vor die Bühne, um IGNITE einen gebührenden Empfang im Moshpit zu bereiten. Ich versuche, vorurteilsfrei an die Sache heranzugehen, um dieses Review nicht allzu negativ wirken zu lassen und weil ich diese Band einmal sehr gemocht habe. IGNITE machen allerdings nach starkem Beginn genau das, was sie in den vergangenen Jahren immer wieder gemacht haben – sie langweilen mich und das ist traurig. Waren die politischen Statements bei Candace Kucsulain noch intelligent-charmant verpackt, ergeht sich Frontmann Zoli Teglas immer wieder in Aussagen, die den Bogen teilweise überspannen und die in der Feststellung gipfeln: „Alle Politiker wollen nur euer Geld!“ Tut mir leid, Herr Teglas, eine solche undifferenzierte Sichtweise vertrete ich nicht. Außerdem machen IGNITE das, was sie schon seit Längerem konsequent durchziehen, sie ignorieren Songs der Phase vor dem 2001er-Album „A Place Called Home“, in der sie auch schon großartige Musik geschrieben haben, z. B. die gesamte „Past Our Means“-Scheibe. Deshalb gibt es dafür insgesamt maximal ein „ausreichend“.
Gut, dass nach diesem doch sehr emotionalen Moment SICK OF IT ALL die Bretter entern, um dem schon gezeichneten Publikum den finalen Schlag zu verpassen. Und das machen sie mit einer Effizienz, die einem die Freudentränen in die Augen treibt. Gekonnt kokettiert Frontgerät Lou Koller immer wieder mit dem Wechsel von neuen und alten Songs. Dabei funktionieren die Stücke der aktuellen Scheibe „Wake The Sleeping Dragon“ mindestens genauso gut wie die altbekannten Gassenhauer. Die Instrumentalsektion (Pete) Koller-Setari-Majidi groovt arschtight und Lou Koller macht ein Spässken nach dem anderen, wenn er sich nicht gerade die Seele aus dem Leib röhrt. Die Meute im Pit rastet kollektiv aus, mosht, was das Zeug hält, und wird zum guten Schluss mit den Old-School-Bombern „Scratch The Surface“ und „Step Down“ völlig schrottreif geschossen. So muss das sein. Vor allem Lou Koller bedankt sich überschwänglich beim Publikum und entlässt es mit Shake Hands in die Nacht.
Abschließend kann ich sagen, dass ich froh bin, trotz der Motivationsschwierigkeiten am Mittag, doch den Weg in die Turbinenhalle auf mich genommen zu haben. Es war wie in jedem Jahr ein entspanntes Event, Speis und Trank sind vergleichsweise günstig, dabei wird zunehmend auf ein ausgewogeneres Angebot an Futter geachtet. Es gab einige großartige musikalische Momente zu sehen und zu hören, aber auch einige Enttäuschungen. Der Ausblick kann für mich nur ergeben, dass die Tradition des Persistence-Tour-Besuchs in Oberhausen auch im nächsten Jahr fortgesetzt wird, wobei dann hoffentlich ein insgesamt etwas stärkeres Line-Up präsentiert werden wird. Beenden möchte ich mein Review mit einem Aufruf, von dem ich eigentlich nicht gedacht hätte, dass ausgerechnet ich ihn einmal formulieren würde: Angesichts des granatenvollen Typs, der schon um ca. 18.30 Uhr so stramm war, dass er an der schrägen Außenwand des Toilettengangs heruntergerutscht ist, als er versucht hat, sich anzulehnen und dann vorbildlich zur Seite abgeschmiert ist und der teilweise überaggressiven Betrunkenen im Pit meine Bitte: Drinkt ein bisschen mehr responsible!