Annisokay: Abyss Pt.1
Seit ihrem letzten Album „Aurora“ sind gut zweieinhalb Jahre ins Land gezogen, nun melden sich Annisokay endlich mit ihrer neuen EP „Abyss Pt. 1“ zurück. Obwohl man nach der letzten Platte schon meinen konnte, dass die vierköpfige Formation aus Halle ihren ganz eigenen, einzigartigen Sound perfektioniert hätten, legen sie mit der neuesten Veröffentlichung nochmal eine ordentliche Schippe drauf.
Seit dem letzten Longplayer machte das Gespann neben einer Pandemie auch noch einen weiteren Besetzungswechsel durch: Bassist Norbert Rose musste die Band aus privaten Gründen verlassen. Künftig wird Peter Leukhardt, der zuvor bereits als Aushilfe und bei Videodrehs der Band mitgewirkt hatte, die freigewordene Stelle am Bass übernehmen. Wie er sich live schlägt wird die kommende Abyss-Tour im Herbst zeigen. Das Material aus den bisherigen Songs mit ihm klingt schon mal vielversprechend.
Im Gegensatz zu den fünf vorhergehenden Alben bringt „Abyss Pt.1“ mit „Into the Abyss“ einen zum Titel der EP passenden Intro-Track mit sich. Obwohl dieser zunächst überflüssig erscheinen mag, schafft er einen gelungenen Einstieg in die düsterne und melancholische Atmosphäre der Platte und bereitet den Hörer auf das Nachfolgende vor. Mit epischen Synthesizer-Klängen und einem Piano im Hintergrund baut sich der Track langsam auf. Zur Mitte hin erreicht der Song mit einer Art Breakdown seine Klimax, ehe er zur ruhigen Anfangsstimmung zurückkehrt. Mit den Worten „…as we sink into the Abyss“ wird der Titel aufgegriffen und auch ein thematischer Einstieg geschaffen.
Ganz anders beginnt der anschließende Song „Human“, welcher direkt mit einem imposanten Breakdown startet. Thematisch knüpft er eindeutig an das letzte Album „Aurora“ an, auch hier werden wieder die Schattenseiten der Menschen besungen und deren Handeln kritisiert. Der Track liefert einen eingängigen Refrain und auch die lyrische Komposition der Strophen ist definitiv nicht von schlechten Eltern. Was das Werk aber wirklich ausmacht, ist der brachiale Breakdown zum Ende hin, der mit den Worten „While we’re digging our own fucking hole“ eingeleitet wird. Hier können sich einige Shouter etwas von Rudi Schwarzer abschauen, der sich während „Human“ von seiner allerbesten Seite zeigt.
Musikvideo zu „Human“
Einen kurzen und gelungenen thematischen, aber auch musikalischen Lichtblick liefert „Ultraviolet“, der zweite und letzte nicht vorab veröffentlichte Song der EP. Zu der sehr technisch angehauchten, heiteren Hintergrundmusik gesellt sich der optimistisch klingende Cleangesang von Wieczorek. Dieser wird diesmal nicht nur um gelungene Shouts, sondern auch um einen erstaunlich gut passenden Rap-Part ergänzt. Durch diesen präsentiert Rudi Schwarzer erneut seine Vielseitigkeit und zeigt, dass sich auch seine „normale“ Gesangsstimme sehr gut einbringen lässt.
Inhaltlich geht es um einen Menschen, der nur vom lyrischen Ich wahrgenommen wird und für die weitere Umwelt unsichtbar ist. Annisokay machen klar, dass jeder von irgendwem gesehen wird und man sich auf keinen Fall von den anderen kleinkriegen lassen soll. „Ultraviolet“ hätte genauso wie alle anderen Lieder als Single veröffentlicht werden können und ist gerade wegen der mutmachenden Stimmung und dem kurzweiligen, aber gelungenen Stilwechsel mein persönlicher Favorit auf dieser EP.
Mit „Throne of the Sunset“ kehren Annisokay aber sehr schnell wieder zur ursprünglich erzeugten Stimmung zurück. Wieczorek & Co. weisen darauf hin, dass man manche Dinge einfach nicht ändern kann, egal wie sehr man es möchte und das alles auf dieser Welt vergänglich ist. Sie hinterfragen das menschliche Dasein und den eigentlichen Zweck der Existenz. Der Song bildet mit der Akzeptanz des Unausweichlichen letztendlich einen starken inhaltlichen Kontrast zu „Ultraviolet“. Auch musikalisch geht es erneut härter zu, wobei die Single diesmal vor allem durch Schwarzers raue Screams geprägt wird, die in einem erwartbaren Breakdown münden. „Throne of the Sunset“ ist in jeglicher Hinsicht solide, hebt sich aber meiner Meinung nach zu wenig von den anderen Tracks ab, die eine hohe Erwartungshaltung aufgebaut haben.
Musikvideo zu „Throne of the Sunset“
Wer Annisokay schon eine Weile verfolgt weiß, dass Neuinterpretationen bekannter Lieder früher durchaus an der Tagesordnung standen. Natürlich wurden diese immer mit einem ganz eigenen Touch versehen und teilweise stilistisch komplett verändert. Nach einigen Jahren ohne neue Cover dürfte „Calamity“ (Cover des Megahits „Remedy“ von Leony) definitiv eine Überraschung für einige Fans gewesen sein. Zu Beginn bleibt die Band noch recht nahe am Original, weicht dann aber sowohl musikalisch als auch textlich von diesem ab. Ein reines Cover hätte meiner Ansicht nach nichts auf der EP zu suchen gehabt, doch Annisokay schaffen es durch Abweichungen an den richtigen Stellen „Calamity“ gut in die Gesamtstimmung der Platte einzuordnen.
Musikvideo zu „Calamity“
Obwohl es bereits vor über einem Jahr veröffentlicht wurde, bildet „Time“ den Abschluss von „Abyss Pt.1“. Hier wird das lyrische Ich mit der Zweizügigkeit der Zeit konfrontiert und lernt, dass Zeit ein enorm wertvolles Gut ist, das dein Leben aber gleichzeitig begrenzt. Christoph Wieczorek besingt neben Themen wie Selbstfindung im Refrain auch die Notwendigkeit aus dem einfachen „Vor sich hinleben“ auszubrechen. Textlich gehört „Time“ mit Passagen wie „If you wanna kill time, you better not forget, it has never been beaten by a human yet“ definitiv zu den stärksten Songs der EP. Dafür bleibt eindeutig Potenzial bei den nahezu nicht vorhandenen Shout-Passagen von Rudi Schwarzer liegen, der lediglich zum Ende hin seine beeindruckende Stimme ertönen lässt.
Musikvideo zu „Time“
Abschließende Worte + Bewertung
Insgesamt wachsen Annisokay mit „Abyss Pt. 1“ über sich hinaus und schaffen es mit nur sechs Songs die hochgesetzte Messlatte von „Aurora“ erneut zu überspringen. Gerade die stimmliche Symbiose zwischen Wieczorek und Schwarzer ist einzigartig und kommt auf der EP nochmal besser zum Vorschein. Auch die Rhythmus-Sektion mit neuem Bassisten und Schlagzeuger Nico Vaeen lässt kaum Wünsche unerfüllt und sorgt für ein mehr als stimmiges Gesamtbild.
Zugegebenermaßen war es nach vier vorab releasten Singles zunächst ernüchternd zu hören, dass man auf der EP nur zwei unbekannte Songs zu hören bekommt. Clean-Sänger, Produzent und Gitarrist Christoph Wieczorek verriet auf Instagram bereits , dass es schon einen Grund habe, dass die neue EP um die Bezeichnung Part 1 ergänzt wurde. Das lässt auf einen nicht allzu fernen Release eines zweiten Teils hoffen. Der erste Part ist es auf jeden Fall wert gehört zu werden.