Review: Fehlfarben

9.4

"?0??" ist in sich selbst geschlossene Kunst!

Es gibt Bands mit denen man sich entwickelt und alt wird. Die einen im erwachsen werden begleiten. Und dann gibt es wiederum Bands die einen ergreifen, weil sie immer so klingen, wie man es aus der Kindheit gewohnt ist. Zu Letzteren zählen für mich eindeutig die Fehlfarben. Sie sind ihrem Sound treu geblieben. Am Freitag, den 14. Oktober 2022, wird ihr neues Album „?0??“ über Tapete Records erscheinen und zeitgleich startet auch die Tour dazu.

Es soll die Platte zum Jahr 2022 sein. Die drei ??? stehen für die Verunsicherung des Jahres und das Album hat exakt 12 Songs, für jeden Monat einen. Schon hier stellt sich heraus wie vielschichtig das Album „?0??“ ist. Und auf wie vielen Ebenen sich die Fehlfarben mit den aktuellen Themen auseinander gesetzt haben.

Direkt beim ersten Hören erinnerte mich einiges an „Monarchie und Alltag“ (1980), dem gefeierten Debut-Album und ersten Meilenstein der Fehlfarben. Nach „Knietief im Dispo“ (2002) soll „?0??“ genau dort anknüpfen. Ebenso wie „Monarchie und Alltag“ entstand „?0??“ in schwierigen, beziehungsweise komplizierten Zeiten, voller Angst und Zweifel und Widersprüche. Die Themen werden musikalisch und sprachlich so intensiv und mit solch spielerischer Wucht behandelt, dass man komplett vergisst, wie viel Zeit mit insgesamt 5 weiteren Studioalben mit Sänger Peter Hein zwischen Heute und Einst liegt. Er erklärt, wie es dazu kam: „Keine runde Sache, mal wieder. Kein Alleinstellungsmerkmal. Ich mein, wen hat es denn nicht erwischt die letzten drei Jahre? Und mal ganz ehrlich, wer wüsste denn noch wer „Fehlfarben“ sind, hätten sie nicht die letzten Jahre genutzt und eine – nach eigenen Angaben – „Schnapsidee“ umzusetzen und aus der eigentlich einmaligen Idee „Lieblingsplatte“ (© Miguel vom ZAKK, Düsseldorf) mangels Studiozeit ein solides Geschäftsmodell für die reifere Jugend gemacht.Und das kam gut an. Veranstalter und Publikum gleichermaßen beeindruckt.
Aaaaber: Aus Kreisen der Band verlautete schon seit längerem Unzufriedenheit: kennt man doch, alles der alte Mist, nix Neues…
Und genau in dem Moment wo sich die Belegschaft wieder zusammenrauft, um statt dem ewig gleichen Trott mal wieder was Neues zu machen, Aufnahmen in diversen Räumen, neue Gedichte in alten Klangschläuchen, eh schwierig genug, weiß man um die geographische Streuung aller Beteiligten, kurz, wer will da noch ihre Jammerei wiedergeben. Es war ja für alle gleich. Reden wir einfach nicht drüber. Es gibt nichts Peinlicheres als das Offensichtliche. Lasst es uns drum einfach so ausdrücken: Irgendwie haben sie es dann doch noch geschafft, ihre vor allem selbstverschuldeten Hindernisse zu überwinden. Es entstanden Stücke ohne Ende, die trotz aller „Maßnahmen“ und Pestilenz bei körperlichem Einsatz vor Ort entwickelt und während eines letzten Aufbäumens trotz 70%-iger Fallzahlen beendet werden konnten, ja mussten. Und jetzt keine Beschwörung des Unvermeidlichen, es hat ja jeden Hütchenspieler und seinen Hund gleichermaßen getroffen, Verlegungen und Verschiebungen zählt man gar nicht mehr…“

„Mach dich auf den Weg,
Den Weg, den keiner sonst geht
Geh ihn nicht allein.
Allein kommst du nicht heim
Heim in jene Zeit,
Die Zeit, die dir noch bleibt
Bleib nicht zu oft stehen
Im Stehen wirst du bequem“

Mit diesen Zeilen startet das Album und somit auch der erste Song „In die Welt gestellt“. Der Song dringt direkt in den Kopf ein und zieht einen mit in die Welt der Fehlfarben. Weiter geht es dann mit „Der letzte Traum“, zu welchem bereits am 09. September 2022 ein Video erschien.

Ein Song der mich nachhaltig zum Denken angeregt hat ist „Nachhaltig“. Er handelt von der Verschwendungsgesellschaft und übermäßigen Bequemlichkeit der Menschheit. Der 5. Song von „?0??“ ist für mich eine eindeutige Antwort auf die Frage, was wohl dabei rauskäme, wenn man dem Fehlfarben-Sound eine Prise tanzbaren Groove hinzufügt. „Tanz auf der Straße“ ist fulminanter und lockerer als man es eigentlich von den Fehlfarben gewohnt ist.

„Tanz auf der Straße
bis morgens um 4.
Bis zur Ekstase,
dafür sind wir hier.“

Die wahre Kunst liegt darin, wichtige Dinge in Kürze auf den Punkt zu bringen. Bei einer Songlänge von 1.19 Min kann man hierbei schon von Perfektion sprechen. Genau so lang ist der Song „Innenstadtfront“ und dabei prescht er sehr nach vorne und behandelt kritische, politische Themen beziehungsweise kritisiert, dass dabei nichts passiert. Das komplette Gegenteil dazu ist dann „Brot ohne Spiele“ mit seinen 4.24 Minuten.

Es wäre kein richtiges Fehlfarben-Album wenn nicht das wohl größte kritische Thema der aktuellen Zeit auch angesprochen wird. Hierzu kommt es im Song „Europa“, der gleichermaßen über Flüchtlinge und die deutsche Starrsinnigkeit handelt.

Am 05. August 2022 erschien dann ein, wie ich finde, wundervolles Lyric-Video zum Song „Kontrollorgan“.

Damit neigt sich „?0??“ auch schon dem Ende zu. Der 11. Song „Das Rennen macht müde“ kommt sehr düster und apokalyptisch daher. Den Abschluss macht dann „3 Kapitäne“. Dieser Song schickt einen dann final sehr sphärisch in den Abgrund.

„3 Kapitäne ohne Steuermann,
gemeinsam steuern sie den Wahnsinn an.
Schicken einander in Quarantäne,
niemand der mehr am Leben teilnähme.
Glauben ans Dogma digitaler Unfehlbarkeit,
reellen krypto-Gehirn befreit.

Wir nehmen alles auseinander,
nichts bleibt wie es war.
Jeder versetzte Berg ist doch immer noch da!“

Insgesamt betrachtet ist „?0??“ in sich selbst geschlossene Kunst. Es macht den größten Sinn und Spaß dieses Album komplett zu Hören und nicht auseinander zu reißen. Es ist ein Gesamtkunstwerk. Ein sozusagen abgeschlossenes Jahr. Kein Thema der jüngsten Zeitgeschichte wird ausgelassen. Die Fehlfarben lassen uns tanzen gegen Krieg und Frieden, kuscheln für Freund und Feind, prangern Ernährungsprobleme an, lobpreisen Dienstleister, fordern und fördern Leistungsempfänger. „?0??“ ist gleichermaßen ein Aufschrei der Bestürzung wie auch ein Aufruf zur Revolte. Wir können die Augen einfach nicht mehr verschließen.