Turbostaat sind eine Band, die mich schon den Großteil meines Lebens begleitet haben, und ihre Musik war und ist immer noch etwas ganz besonderes für mich, auch da wir die gleiche Heimat teilen. Natürlich war ich dann furchtbar gespannt auf ihr neues Album „Alter Zorn“, welches am Freitag, den 17. Januar 2025, erscheint. „Alter Zorn“ hat mich wirklich positiv überrascht, denn ich hatte schon ein wenig Zweifel, da mir die Vorgänger „Abalonia“ und „Uthlande“ nicht so zugesagt haben. Doch „Alter Zorn“ spannt einen Bogen zurück zu den großartigen Werken „Das Island Manöver“ und „Vormann Leiss“. Es ist wie der Titel schon verraten mag ein Album voller angestauten Zorn und Wut. Was wohl der größte Unterschied zur bisherigen Diskographie sein wird, ist, dass es nicht mehr im nebligen Norddeutschland handelt, sondern auch Großstadtdramen erzählt. Wo sonst Möwen, Wattenmeer-Nebel und graue Weiten waren, verdecken nun Taubenschwärme, endzeitlich versmogte Betonburgen und eine gottverdammte Bismarck-Statue, die dem Szeneviertel ihren metergroßen Arsch entgegenstreckt, die Sicht auf alles Schöne.
Wir starten also mit „Affenstraße“ und einem Blick auf eine verwahloste Eckkneipe in der sich düstere Schatten stapeln. Der Song hat einfach ab dem ersten Moment alle typischen Turbostaat-Eigenheiten. Es ist ein Gemisch aus Melancholie und Tatendrang und ein wunderbarer Song um ihn live Mitzugröhlen. Was mir bei mehreren Songs im Album aufgefallen ist, dass sie mir schon so verdammt bekannt vorkamen, als ob es ein Remake von einem früheren Turbostaat-Song wäre und dies doch nicht sind. So auch bei „Scheissauge“. Die tragende Songzeile „Und der Stillstand/ tief in ihrem Gesicht/ es gab für alles einen Grund/ und auch schon immer 50 Wörter für Grau“ war direkt beim ersten Hören schon so bekannt und lag mir auf der Zunge als wenn sie dort hingehörte. Ebenso beschreibt dies sehr passend das Typische an Turbostaat-Songs, denn es sind alles nur schöne Umschreibungen für Grau. Genau dies macht die Band aber auch so norddeutsch, wie im Vergleich die Inuit zig Worte für Schnee haben, so gibt es hier verschiedene Worte für Grau und Regen.
Mit „Nachtschimmel“ kommt dann eine nicht nur poetische Eskalation mit auf’s Album, auch musikalisch geht es gut zur Sache. „Isolationen“ überzeugt durch seine krasse erste Zeile: „Hier gibt es keine Hoffnung“, welche die gesamte depressive Stimmung des Songs bereits zusammenfasst. Der Song „33 Tage“ könnte in genau dieser Form auch auf „Das Island Manöver“ bereits vertreten gewesen sein und „Otto muss fallen“ ist sowohl dieser besagte Break zum Großstadtleben als auch wahnsinnig politikkritisch wie auch norddeutsch.
Einen genaueren Blick lohnt es sich zu werfen auf den Abschluss von „Alter Zorn“, denn bei den Songs „Den Annern sin Uhl“ und „Mutlu“ gibt es nichts mehr, was an vorige Songs erinnert, ein scheinbar ganz neues Turbostaat-Gewand mit experimentellen Sounds und direkter Sprache.
„Nur ein Schiss im Meer, doch er schwimmt dir hinterher“, heißt es im melancholisch-aufbrausenden und zum letzten Drittel hin geradezu explodierenden Albumfinale „Jedermannsend“, ein Kernstück des Albums, das sich offensiv und eigenwillig mit dem Prozess der Trauerbewältigung beschäftigt. „Jedermannsend“ bündelt, was „Alter Zorn“ so besonders, so nachdrücklich, so unüberhörbar macht: Diese seltsame Gleichzeitigkeit von Kapitulation und Aufbruch, umfassender Ermüdung und beinahe adoleszentem Dynamismus. Vielleicht war es auch deshalb die erste Singleauskopplung.
Ausnahmsweise wird dieses Mal auch auf das Album-Cover eingengangen, unter anderem weil es so speziell ist und eine Geschichte sich trägt. Auf dem Cover von „Alter Zorn“ ist ein junger Punk zu sehen, der breit lächelnd in einer kahlen Raumecke steht. Es ist Turbostaat-Stammproduzent und Toningenieur Moses Schneider in seinen späten Zwanzigern, oder in seinen frühen Dreißigern, jedenfalls in einem Lebensabschnitt vor Kamillentee und Hochglanz-Equipment, sich anschleichender Saturiertheit und arglistiger Altersmilde. Dreck, Wut, Tatendrang, Aufbruchsstimmung, rotziger Pessimismus, unverhohlen grantiger Punk-Geist, das sind die Parallelen zwischen jenem angegilbten Foto und der Platte, die es bebildert. Sie hört mit Fug und Recht auf den Namen „Alter Zorn“, klingt mehr nach Stunde null als nach Spätwerk-LP und probt, anstatt friedfertig zu umarmen, den unsanft aufrüttelnden Würgegriff.
In Turbostaat’s Köpfen tobt infolge harter, von Krankheit, Konzertausfällen und Gesamtscheiße gezeichneter Jahre zu viel „Alter Zorn“. Frei nach dem Motto „Es geht nichts mehr, es geht nichts mehr, doch gar nichts ist vorbei“ war da einfach kein Platz für Rekapitulationen, Grown-Man-Punk oder ein abgeschmirgeltes ‚früher war alles besser‘-Album. „Alter Zorn“ wurde produktionsseitig einmal mehr von Moses Schneider betreut und fühlt sich an wie ein reinigendes Gewitter in zwölf Akten: Kaum beherrschbar, hektisch, unverbraucht, aufgewühlt, schwarzmalerisch, stellenweise beinahe schaurig. Turbostaat-Mollmusik klingt, wie Turbostaat-Mollmusik klingt, das ist auch auf „Alter Zorn“ so, nur hallen die schroff flatternden Riffs schlecht gelaunter, die Bassspuren harmoniezerberstender, die staubigen Rumpeldrums dumpfer, die Disharmonien forcierter und die Brüche im Sound radikaler denn je nach. Die einmal mehr von Gitarrist Marten verfassten und von Sänger Jan mit altbekannter Akzentuierung herausgeschrienen Lyrics werden hin und wieder beinahe von kontrapunktischen zerrenden Gitarrenwänden übertönt, Snare-Schläge erinnern zeitweise an bretternden Kugelhagel, in den Song-Dramaturgien wohnt Anarchie.
„Alter Zorn“ ist gleichzeitig ein Schritt zurück in die Emotion und Wut, die schon immer in Turbostaat’s Songs ruhte und vielleicht etwas abgenommen hatte und ein Schritt nach vorn und in die Gegenwart und neue Handlungsorte. Es ist auf jeden Fall ein Album was man sich unbedingt anhören sollte. Mir persönlich fällt es schwer abschließend und zusammenfassend die richtigen Worte zu finden, weil da einfach so viel in „Alter Zorn“ schlummert, was sich schwer in Worte fassen lässt, auch weil es um Emotionen geht, die sich vielleicht nicht beim ersten Hören direkt offenbaren.